1/6 Die Inflation macht vielen Menschen Sorgen. Jetzt erhöhen die Industrien die Löhne. Die Uhrenindustrie boomt um etwa 3 Prozent. Martin Schmidt und Sarah Frattaroli Die Löhne in der Schweiz steigen so schnell wie seit fast 15 Jahren nicht mehr. Gemäss der grossen Lohnumfrage von UBS können sich Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Jahr 2023 auf eine durchschnittliche Lohnsteigerung von 2,2 Prozent freuen. «2.2 dürfte kaum zu Freudensprüngen unter den Arbeitern führen», sagt UBS-Ökonom Florian Germanier. Schuld ist die hohe Inflation. Die Schweizerische Nationalbank erwartet dieses Jahr eine Inflation von 3%. „Im Jahr 2022 erwarten wir derzeit einen Rückgang der Reallöhne um 1,8 %. Das ist der größte Einnahmeverlust seit 1942.” Auch die Reallöhne dürften nächstes Jahr stagnieren, da die Inflationsrate deutlich über 2 % bleiben dürfte. UBS geht daher davon aus, dass der diesjährige Lohnausfall nicht kompensiert wird. „Vor diesem Hintergrund überrascht eine Lohnerhöhung von nur 2,2 Prozent“, sagt Germanier.

“Gewerkschaften hatten überzogene Erwartungen”

Auch die Gewerkschaften warnen vor einem Kaufkraftverlust. Unia-Sprecher Christian Capacoel zeigt vor allem auf den Detailhandel, wo die Lohnverhandlungen noch andauern. «Es ist eine Niedriglohnbranche mit besonders vielen Alleinerziehenden, die teilweise unfreiwillig Teilzeit arbeiten und schon jeden Franken doppelt verdienen müssen.» Der Gewerkschafter glaubt, dass sich grosse Einzelhändler wie Migros und Coop Reallohnerhöhungen leisten könnten. Auch im Bausektor haben sich die Sozialpartner noch nicht durchgesetzt, in verschiedenen Landesteilen wird dieser Tage gestreikt, so auch am Freitag in Zürich. Der Arbeitgeberverband antwortet: „Die Gewerkschaften hatten von Anfang an überzogene Erwartungen“, kritisierte Sprecher Andy Müller. So hatte etwa die Unia flächendeckende Lohnerhöhungen von 4 bis 5 Prozent gefordert – die UBS-Lohnumfrage zeigt nun, dass dies in den meisten Branchen noch immer nicht der Fall ist. Die Konjunkturaussichten seien düster, warnt Müller. „Es besteht die Gefahr von Energieknappheit und wir haben mit Lieferkettenproblemen zu kämpfen. Es ist der falsche Zeitpunkt, um Lohnerhöhungen mit der großen Kelle durchzusetzen.“ Die Inflation geht laut Arbeitgeberverband bereits wieder zurück. Tatsächlich ist sie zuletzt von 3,5 % im August auf 3,3 % im September und jetzt sogar auf 3 % im Oktober gefallen. Damit mutiert die Schweiz international zu einem Sonderfall Inflation. In der Eurozone beispielsweise befindet sich die Inflation auf Rekordhöhen 9,9 Prozent.

Gastronomie und Beherbergung mit deutlicher Lohnerhöhung

Für ihre Gehaltsumfrage hat UBS 290 Unternehmen aus 22 Branchen befragt. Da dort über 90 Prozent der Arbeitnehmer beschäftigt sind, gibt die Umfrage einen detaillierten Überblick über die Situation im Land. Dies zeigt, dass die Löhne in einigen Branchen deutlich stärker steigen. Die größten Gewinner sind Beschäftigte in der Uhren- und Schmuckindustrie, im Großhandel und in der IT-Branche. Für sie sind es durchschnittlich 3 Prozent mehr. Aber auch in Niedriglohnjobs in der Tourismusbranche steigen die Löhne deutlich. Beschäftigte im Gastgewerbe und Gastgewerbe erhalten ebenfalls 3 Prozent mehr. „Der Personalmangel hat dort ein überdurchschnittliches Wachstum ermöglicht“, sagt Germanier.

Der Fachkräftemangel trifft Unternehmen zunehmend

Dass die Unternehmen die Löhne nicht erhöhen, führt UBS auf die düsteren Wirtschaftsaussichten zurück. Ein Drittel der Unternehmen rechnet sogar mit einer Rezession – ein Jahr zuvor waren es gerade einmal 3 %. Der Einfluss der Wirtschaftslage auf die Lohnsteigerungen sei nicht zu unterschätzen, so Germanier. Was auch gegen höhere Lohnerhöhungen bei den Unternehmen sprach: Viele erwarten, dass die Inflation im nächsten Jahr sinken wird. Andererseits wirkte sich der allgegenwärtige Fachkräftemangel positiv auf die Arbeitskräfte aus. Im vergangenen Jahr gaben rund 66 Prozent der Unternehmen an, Probleme bei der Besetzung offener Stellen zu haben. In diesem Jahr waren es bereits 80 Prozent. Nur 7 % der Unternehmen können offene Stellen fristgerecht besetzen. Der Fachkräftemangel ist laut Arbeitgeberverband der stärkste Treiber für Lohnsteigerungen als die Inflation. Die Lohnrunde wird mitbestimmen, wie sich die Inflation in der Schweiz im nächsten Jahr entwickeln wird. „Die Inflation wird derzeit hauptsächlich von den Energiepreisen getrieben. Je nach Lohnzyklus könnten die Löhne zum Haupttreiber werden», sagt UBS-Ökonom Alessandro Bi. Doch die Lohnerhöhung um 2,2 Prozent droht laut UBS keine Lohn-Preis-Spirale.